Lesetip: „Deal unter Forschern – Wie TTIP mit Fakten hantiert“

Von | 1. Mai 2016

Wir haben uns an dieser Stelle schon mehrfach mit verschiedenen Aspekten der TTIP-Verhandlungen beschäftigt und Fragen thematisiert, die die soeben veröffentlichten TTIP-Leaks-Dokumente erneut aufwerfen. In diesem Zusammenhang möchten wir auf ein halbstündiges Radiofeature hinweisen, das am 24. April im Deutschlandfunk gesendet wurde. Thema: Warum und wie bedroht TTIP den europäischen Verbraucherschutz? ‍

Unter dieser Adresse können Sie die Sendung im Internet finden. Die Seite enthält das vollständige Manuskript. (EDIT: Die Audio-Datei ist nicht mehr zugänglich)

Der Radiobeitrag von Peter Kreysler beschäftigt sich hauptsächlich mit der Frage, auf welche Weise unter der Chiffre von „science-based regulations“, also wissenschaftlich basierter Zulassungsvorschriften, die wesentliche Grundlage des europäischen Verbraucherschutzes, nämlich das „Vorsorgeprinzip“ im Gefolge des transatlantischen Handelsabkommen TTIP unter die Räder kommen könnte.

Die Zulassung von Chemikalien, Arzneimitteln, Pestiziden etc. auf eine „wissenschaftliche Grundlage“ zu stellen, klingt zunächst vernünftig. Die Naturwissenschaften stehen im Ruf, unabhängig und unbestechlich zu sein, Aussagen einzig und allein auf nachprüfbare Fakten zu gründen. Tatsächlich ist das in Zeiten exzessiver Drittmittelfinanzierung der Universitäten jedoch ein Mythos, wie sich anhand zahlreicher wissenschaftlicher Streitfälle belegen lässt – wissenschaftliche Forschung ist alles andere als frei von politischen und wirtschaftlichen Interessen. Man denke nur an den jahrzehntelangen Wissenschaftler-Streit um die Frage, ob das Rauchen gesundheitsschädlich sei oder nicht. Es gibt kaum ein wirtschaftlich interessantes Thema, zu dem nicht zahlreiche einander widersprechende wissenschaftliche Studien vorliegen.

Am Beispiel des Pestizids Atrazin, das in den USA großflächig versprüht, in der EU hingegen verboten ist, zeigt Kreysler die unterschiedlichen Herangehensweisen in den USA und in der EU auf. In den USA muss wissenschaftlich unabweisbar bewiesen werden, dass ein Stoff gesundheitsschädlich ist, bevor er verboten werden kann. Dort gilt das „Nachsorgeprinzip“: Ist das Kind erst in den Brunnen gefallen, kommen auf den Hersteller u.U. immense Schadensersatzklagen zu, aber bis dahin hat er relativ freie Hand. Es versteht sich von selbst, dass in diesem Umfeld die Einflussnahme auf Forschungsergebnisse für die Konzerne von eminenter Bedeutung ist. In Europa ist hingegen das „Vorsorgeprinzip“ vertraglich 1 festgeschrieben. Der Unterschied ist: In den USA muss die Schädlichkeit eines Stoffes wissenschaftlich (gegen alle anderslautenden Auftragsstudien der Industrie) erwiesen werden, um ihn verbieten zu können, in Europa hingegen muss der Hersteller dessen Unschädlichkeit wissenschaftlich zweifelsfrei nachweisen, um ihn erlauben zu können.

Ein Beispiel macht das schlagend deutlich:

„Die USA haben nur elf chemische Stoffe für die Verwendung in Kosmetika verboten. Die EU hat 1.300 aus dem Kosmetiksektor verbannt.“

In beiden Fällen, das unterschlagen die TTIP-Befürworter, die das Hohelied der „science-based regulations“ anstimmen, nur allzugerne, spielt die Wissenschaft eine entscheidende Rolle.

TTIP bedroht nun, das ist Kreyslers Kernaussage, dieses europäische Vorsorgeprinzip auf entscheidende Weise, indem es zukünftige Gesetzgebungsverfahren unter die zusätzliche Kontrolle (man könnte sogar sagen, unter die „Oberaufsicht“) von Wirtschaftlichkeitserwägungen stellt.

Zentrale Instanz dieses Eingriffs in die europäische Gesetzgebung ist der von TTIP vorgesehene „Regulatorische Rat“. Pia Eberhardt von der lobbykritischen Organisation Corporate Europe Observatory erklärt, worum es sich dabei handelt:

„Auf die Brisanz der regulatorischen Co-Operation sind wir gestoßen über eine Informationsfreiheits-Anfrage an die Kommission, die wir gestellt haben. Auf die hat die Kommission geantwortet mit einem wirklichen Stapel von Papier, es war ein totales Chaos. In diesem Stapel von Papieren haben wir Positionspapiere gefunden von Business Europe und der US Chamber of Commerce, in denen sie ganz klar sagen: ‚Wir möchten diese Verhandlungen nutzen, um Co-Gesetzgeber zu werden.‘ Sie benutzen tatsächlich dieses Wort!“

Europäische Politiker betonen stets, das Vorsorgeprinzip stehe nicht zur Disposition. Doch sie verhandeln hinter hermetisch verschlossenen Türen über nichts weniger als das Abtreten eines Teils der Gesetzgebungshoheit der europäischen Staaten. Dinge wie das Vor- oder Nachsorgeprinzip gehören zu den politischen Regelungsprinzipien, die Konzerninteressen am Stärksten tangieren. Bei TTIP geht es um knallharte Wirtschaftsinteressen, um nichts anderes, und das Schleifen europäischer Standards gehört dabei selbstverständlich zu den zentralen Interessen der amerikanischen Seite.

Da ist es mit unverbindlichen Sonntags-Bekenntnissen zur Unantastbarkeit europäischer Standards nicht getan!

 

Anmerkungen:

  1. § 191 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union