Lektionen über Rassismus (1): Individuum und Kollektiv

Von | 8. Februar 2016

Man kommt nicht so ohne Weiteres auf den Gedanken, dringend benötigte politische Aufklärung im Deutschland des Jahres 2016 ausgerechnet bei Monty Pythons zu suchen. Und doch – das hat schon was! In dem Film „Das Leben des Brian“ gibt es eine köstliche Szene, in der die Titelfigur (ein persiflierter Jesus) verzweifelt versucht, sich seiner aufdringlichen Anhänger zu erwehren.

Vor einer Menschenmenge, die an seinen Lippen hängt, hebt Brian an, ihnen „ein oder zwei Dinge“ zu erklären:

Brian: Leute, ihr seht das ganz falsch. Ihr braucht mir nicht zu folgen. Ihr braucht niemandem zu folgen! Ihr solltet selber denken! Ihr seid alle Individuen!

Die Menge (unisono): Ja! Wir sind alle Individuen!

Brian: Ihr seid alle unterschiedlich!

Die Menge (unisono): Ja! Wir sind alle unterschiedlich!

Mann in der Menge: Ich nicht…

Die Menge: Schhh!

Was sollte man daraus im deutschen Winter 2016 lernen können? Nun: man könnte anfangen, die banale Erkenntnis ernstzunehmen (und zu verteidigen!), dass nicht nur wir, sondern auch „die Anderen“ Individuen und alle unterschiedlich sind.

Was wir derzeit in Deutschland erleben, das unverhüllte Wiederaufleben des üblen alten Rassismus, scheint nur auf hilflose Besorgnis, nicht aber auf entschiedenen Widerstand zu stoßen. Waren es im ersten Halbjahr 2015 noch die „faulen Griechen„, die die Gemüter der Stammtische erhitzten, so sind es nun die Flüchtlinge, die die deutsche Öffentlichkeit umtreiben. Ein Zuwanderer auf 100 Einwohner, schon ist in der Phantasie vieler Menschen (und manch grünen Bürgermeisters) das „Boot voll“ – dabei ahnen sie gar nicht, wie abgeschmackt die Metapher ist: Denn „volle Boote“ gibt es ja tatsächlich, man müßte halt nur hinsehen.

Niemand verläßt die Heimat,
bis die Heimat das Maul eines Hais ist.
Du rennst erst dann zur Grenze,
wenn du die ganze Stadt dorthin rennen siehst.

– lautet eine Strophe des (in England vielbeachteten) Gedichts „Home“ von Warsan Shire. Und:

Ihr müßt eines verstehen:
Niemand setzt seine Kinder in ein Boot,
solange das Wasser nicht sicherer ist als das Land
.

https://www.youtube.com/watch?v=v6t78c_5aR4

Man müßte nur hinsehen! Doch die Debatten in Deutschland scheinen vielfach geradezu zum Ziel zu haben, dieses Hinsehen zu unterbinden, Empathie zu ersticken. Da kamen den Gutmenschenverächtern die Übergriffe der Kölner Sylvesternacht gerade recht…

Überhaupt: „Flüchtling“ – ein interessantes Wort! Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat es zum Wort des Jahres 2015 erkoren und in ihrer Begründung auf dessen „tendentiell abschätzigen“ Charakter hingewiesen: Das Ableitungssuffix -ling bezeichne eine „Person, die durch eine Eigenschaft oder ein Merkmal charakterisiert ist„. Und weiter: „Analoge Bildungen wie Eindringling, Emporkömmling oder Schreiberling sind negativ konnotiert, andere wie Prüfling, Lehrling, Findling, Sträfling oder Schützling haben eine deutlich passive Komponente.“ Man könnte stattdessen auch von „Geflüchteten“ reden, oder, wie es das UNHCR (das Flüchtlings-Hochkommissariat der Vereinten Nationen) tut, von „gewaltsam Vertriebenen“ (forced displacements).

Warum macht das einen Unterschied? Nun: Das eine Wort fokussiert auf das Individuum, das andere aufs Kollektiv. Doch genau darin liegt der Kern des Rassismus: Menschen nicht als Individuen zu sehen, sie nicht danach zu beurteilen, was sie als Person sagen oder tun (was ein Kennenlernen voraussetzen würde), sondern ausschließlich danach, welcher Gruppe, welcher Sorte Mensch sie angehören. Dabei sollte man sich im Klaren sein, dass „Rassismus“ als historisch gewachsener Begriff durchaus in die Irre führen kann. Denn er ist nicht notwendigerweise an den biologistischen Unfug von „Menschenrassen“ (ein Begriff, der jedem echten Biologen die Haare zu Berge stehen läßt) gebunden, im Gegenteil gibt er sich heute mit Vorliebe als kultureller oder religiöser Rassismus. Doch auf den jeweiligen Begründungsschwulst kommt es nicht an, das dahinterstehende Denken ist immer dasselbe alte häßliche: Das Individuum ist unabänderlich Träger der – phantasierten – Eigenschaften des Kollektivs, das genügt!

Dieses Denken in Kollektiven und deren (vorgeblichen) Eigenschaften hat unser Alltagsdenken so tief durchdrungen, dass wir es kaum mehr als rassistisch wahrzunehmen vermögen:

Bis zum Sommer waren die Flüchtlinge dankbar bei uns zu sein. Sie haben gefragt, wo ist die Polizei, wo ist das Bundesamt. Wo verteilt Ihr uns hin. Jetzt gibt es schon viele Flüchtlinge, die glauben, sie können sich selbst irgendwohin zuweisen. Sie gehen aus Einrichtungen raus, sie bestellen sich ein Taxi, haben erstaunlicherweise das Geld, um Hunderte von Kilometern durch Deutschland zu fahren. Sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt, sie prügeln [sic!] in Asylbewerbereinrichtungen. Das ist zwar noch [sic!] eine Minderheit, aber da müssen wir klar sagen, wer hier nach Deutschland kommt, wir verlangen eine Ankommenskultur, der muss sich dahin verteilen lassen, wohin wir ihn bringen, sich einem fairen Verfahren unterstellen und unsere Rechtsordnung anerkennen.

Soweit der deutsche Innenminister De Maiziere am 1. 10. 2015 in ZDF Heute Journal. Der Mann ist klug genug, ein paar Pro-forma-Differenzierungen einzuflechten („ Jetzt gibt es schon viele Flüchtlinge, die…“, „zwar noch eine Minderheit“) aber der Subtext des Ganzen ist klar rassistisch „Sie bestellen sich ein Taxi … sie streiken, weil ihnen die Unterkunft nicht gefällt, sie machen Ärger, weil ihnen das Essen nicht gefällt, sie prügeln in Asylbewerbereinrichtungen“. Wie bitte? „Sie streiken“? Wie soll das gehen, wenn man zum Nichtstun verdonnert ist? Polit-Scrabble nach Art des Hauses: Blindlings in die Lego-Kiste der Pfui-Wörter gegriffen, Hauptsache, es bleibt etwas hängen…

Weder er selbst noch die selbstgefällig „seriösen“ Medien, die das Giftzeug unkommentiert in den Äther senden, scheinen auch nur eine leise Ahnung zu haben, welchen Hirnfraß der ehrenwerte Mann hier von sich gibt. Ein Mensch kann dankbar sein, ein anderer undankbar, aber ein Kollektiv? Was soll das sein, die „Dankbarkeit“ des Kollektivs, außer ein blankes Hirngespinst? Jemand mag Geld für ein Taxi haben, vielleicht 10, vielleicht 100, vielleicht 1000 Menschen. Aber sind deshalb sie, die LINGE ein Kollektiv von wohlhabenden Taxireisenden? Warum erwähnt der Nominalchristenpolitiker, ins stigmatisierende „SIE“ gewendet, überhaupt eine alltägliche Selbstverständlichkeit wie die, die sich Tag für Tag in jeder Firmen-Kantine und jeder Mensa dieser Republik abspielt: Dass manchen das Essen schmeckt, anderen nicht? In einem Tonfall, als sei dies der Inbegriff der Ursünde? Gibt es das in der Kantine des Innenministeriums nicht? Wie kommt man überhaupt auf soetwas? Und ist die Tatsache, dass eines der Probleme der Bürokratie darin besteht, dass manche Menschen versuchen, sich zu ihren Verwandten durchzuschlagen (eine Flexibilität, die einfach politisch nicht erwünscht ist, analog zu Urlaubsreisen von arbeitslos Gemeldeten) derart ungewöhnlich und schwer handhabbar, dass man diese Menschen – und ihresgleichen gleich mit – in dieser Wortwahl als moralisch verderbt brandmarken muss? Was ist die – wohlüberlegte, wie man doch wohl annehmen darf – Botschaft hinter all dem, was soll sie sein?

Diese Sprache ist also nicht einfach nur rassistisch, es steckt mehr dahinter: Ein deutscher Innenminister fordert das Publikum zur besten Sendezeit zu rassistischen Deutungs­weisen auf! Ein Innenminister, der besser als jeder Andere wissen müßte, dass sich die Anzahl rassistisch motivierter Gewalttaten gegen Migrantenunterkünfte im letzten Jahr verfünffacht hat! Biedermann und die Brandstifter, das alte deutsche Muster.

Wir wissen schon jetzt, dass wir am 13. März gegen 18:21 Uhr zutiefst erschrecken werden. Darüber, dass – plusminus – jeder Zehnte oder gar jeder Siebte, der uns auf der Straße entgegenkommt, sich vertreten fühlt von Leuten, die offen und ungeniert darüber schwadronnieren, dass man zwar nicht gerade den minderjährigen, wohl aber den erwachsenen …LINGEN „notfalls“ getrost eine Kugel in den Kopf jagen könne. Doch das Erschrecken alleine wird nichts bewirken.

Der Rassismus ist da, in unserer Sprache, in unseren Medien, tief verwurzelt in dem, was wir für unsere „Mitte“ halten. Wir leben in einem von rassistischem Denken geprägten Land! Es wird höchste Zeit, das offen auszusprechen.

Und einen Innenminister über den, seinem Denken offenbar vollkommen fremden, Fakt aufzuklären:

They are all individuals, stupid!

 

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